Der berufliche Weg von Dr. Iris Aicher führte von der Biologie über die Verhaltensforschung zur systemischen Familienberatung – ein Werdegang, der auf den ersten Blick ungewöhnlich, bei näherem Hinsehen jedoch schlüssig ist.
Mit über 20 Jahren Erfahrung in Hundeverhaltensberatung und psychologischer Familienbegleitung verbindet sie heute Wissenschaft, Empathie und Praxiswissen. Sie zeigt, wie eng das Wohlbefinden von Mensch und Tier verknüpft ist – und dass Verhalten immer Ausdruck von Emotion und Beziehung bleibt.
Im Gespräch erklärt sie, warum sie Hochsensibilität als Stärke sieht, wie tiergestützte Therapie Vertrauen schafft und weshalb Verständnis oft mehr bewirkt als Druck.
Dr. Iris Aicher im Interview
Wie hat sich Ihr beruflicher Werdegang entwickelt – was hat Sie dazu bewogen, systemische Familienberatung inklusive Beratung für Kinder, Hunde und Katzen anzubieten?
Mein beruflicher Werdegang war lange kein gerader Pfad – eher eine wellenförmig verlaufende Reise, mit vielen Erkenntnissen, die mich dort hingeführt haben, wo ich heute bin.
Ursprünglich wollte ich Veterinärmedizin studieren. Jedoch wollte ich, anstatt zu diagnostizieren, gerne verstehen warum Tiere und Menschen sich wann wie mit wem verhalten.
Daher begann ich Biologie zu studieren – mit dem Ziel Wolfsforscherin in Kanada zu werden. Nach meinen ersten Freilandpraktika wusste ich fließend warmes Wasser und ein kuscheliges Bett sehr zu schätzen. Die Alternative zu Wölfen im wilden Kanada, war Haushunde mit ihren Menschen im nicht ganz so wilden Österreich zu erforschen sowie HundehalterInnen mit ihren Hunden zu beraten und zu begleiten. So bin ich seit 20 Jahren als selbständige Hundeverhaltensberaterin tätig.
Und was hat das nun alles mit Familienberatung zu tun? Mein Weg erscheint manchmal wie ein Labyrinth – genau betrachtet ergibt jedoch alles Sinn. Denn wir Menschen sind auch nur Tiere! In vielerlei Hinsicht unterscheiden wir uns kaum von anderen Säugetieren – unter anderem in der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen, Stress, Bindung und Trauma.
In meinem Verhaltensbiologie-Studium habe ich sehr viel über Menschen lernen dürfen. Damit ich Menschen noch besser verstehen und unterstützen kann, habe ich eine Ausbildung zur psychologischen Beraterin absolviert, als welche ich bereits seit 2011 tätig bin.
Während meiner Doktorarbeit durfte ich von internationalen Expertinnen mehr darüber erfahren, wie wir Menschen und andere Tiere denken, fühlen, Emotionen regulieren, Beziehungen gestalten, mit Konflikten umgehen und was dabei alles im Körper passiert.
Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit über Bindung und Stressbewältigung hatte ich wichtige Erkenntnisse, welche mich dort hinbrachten, wo ich heute bin. Mir wurde bewusst wie viel wir tun können, um Familien mit Kindern zu unterstützen.
Seit 2018 begleite ich somit Familien mit Kindern und kombiniere hierbei mein Wissen aus Studium und Forschung, mit vielen praktischen Aus- und Weiterbildung und 20 Jahren Berufserfahrung.
In meiner beruflichen Laufbahn hat sich immer wieder gezeigt, dass es nicht nur um eine Person in der Familie geht. Das Verhalten und Wohlbefinden einer Person, egal ob Mensch oder Tier lässt sich innerhalb einer Familie nicht isoliert betrachten. Die einzelne Person bzw. das Tier ist Teil des Familiensystem.
Zusätzlich zu meinen Beratungen unterrichte ich an diversen Hochschulen und biete online Kurse für Familien und Fachkräfte an.
In welchen Fällen wenden sich Familien typischerweise an Sie – und wie gestalten Sie Ihre Beratung, wenn ein Vierbeiner oder ein Kind in schwierigen Situationen gemeinsam begleitet werden soll?
Die meisten Familien melden sich bei mir, wenn der Leidensdruck bereits besonders groß ist und es Spannung in der Familie gibt. Eltern wenden sich oft an mich, wenn das Zusammenleben belastend geworden ist. Manchmal sind es Konflikte mit dem Kind oder Schlafprobleme, oder Ängste beim Kind. Häufig ist auch der Wunsch der Eltern die Bindung zu ihrem Baby oder Kind zu fördern.
Die meisten HundehalterInnen wenden sich an mich wegen ihres schwer traumatisierten Hundes, welche häufig Probleme damit haben Menschen zu vertrauen und Bindung aufzubauen. Zumeist zeigen diese Hunde Angst- oder Aggressionsverhalten.
Die gemeinsame Begleitung beginne ich mit einem ausführlichem Erstgespräch, um die Familie und Ihre Anliegen kennen zu lernen. Hierbei achte ich auf Beziehungsstrukturen, Kommunikation und Interaktion der Familienmitglieder und ich berücksichtige vor allem auch die bisherige Familiengeschichte.
Der systemische Blickwinkel berücksichtig alle Familienmitglieder und deren wechselseitigen Einflüsse aufeinander. Es geht nicht um richtig oder falsch, sondern darum, das Bedürfnis hinter einem Verhalten anzuerkennen und wieder Verbindung und Sicherheit zu schaffen.
Jedem Verhalten liegt eine Emotion zugrunde: ändert sich die Emotion, so ändert sich automatisch auch das Verhalten. Hat zum Beispiel ein Kind Wutausbrüche, weil es sich nicht gesehen fühlt, kann bereits mehr Achtsamkeit dem Kind gegenüber viel bewirken. Bellt ein Hund, weil er Angst hat, verändert sich das Bellen, sobald er sich sicher fühlt. Veränderung passiert nicht durch Druck, sondern durch Verständnis.
Die meisten Prozesse geschehen außerhalb der Beratung im Familienalltag. Ich begleite, unterstütze dabei und biete einen sicheren Rahmen zur Reflexion. Dabei diene ich häufig als „Übersetzerin“ zwischen Eltern und ihren Babys und Kindern bzw. HundehalterInnen und ihren Hunden.
Ich gebe Impulse, welche für die Familien neue Perspektiven eröffnen. Manchmal ist es ausreichend einen neuen Gedanken zu säen, der sich dann im Familienalltag entwickeln darf.
Welche Rolle spielt Hochsensibilität bei Ihren Klient*innen (sowohl menschlich als auch tierisch), und wie verarbeiten Sie dieses Thema in Ihrer Beratungspraxis?
Viele der Familien, die sich an mich wenden haben zumindest ein hochsensibles Familienmitglied, welches oft die ganze Familie vor Herausforderungen stellt.
In meiner Praxis arbeiten wir daran, Wahrnehmung und Belastungsgrenzen bewusst zu machen, den Umgang mit Reizen zu gestalten, Routinen zu etablieren, Pausen zu planen und Stressoren systematisch zu reduzieren. Auch in Online-Angeboten biete ich Kurse zu Hochsensibilität an.
Für mich ist Hochsensibilität kein „Problem“, sondern eine Ressource – sie bringt Feinfühligkeit und Empathie mit. Die Herausforderung besteht darin, Rahmen, Schutz und Selbstwirksamkeit so zu gestalten, dass diese Gabe nicht zur Belastung wird.
Dr. Iris Aicher: Tiergestützte Therapie mit Herz und Wirkung
Sie bieten auch tiergestützte Therapie und Supervision für Fachkräfte im Bereich Hund/Mensch an – worin liegen die besonderen Vorteile solcher Interventionen für die Beteiligten?
Ich biete tiergestützte Therapie mit meinem geprüften Therapiebegleithund Vivo und Kater Leo für Familien mit Kindern an. Die Tiere sind dabei Partner in der Begleitung der Familien.
Tiere bringen etwas in den Raum, das ein Mensch nicht so leicht ersetzen kann. Sie spiegeln unmittelbar, sie bewerten nicht nach menschlichen Normen, sie reagieren auf das, was wirklich da ist. Die Beziehung zu und Interaktion mit meinen Tieren dient als Vorbild für ein wertschätzendes Miteinander.
In der tiergestützten Arbeit erlebe ich immer wieder, wie sich Spannungen lösen, sobald ein Tier anwesend ist.
Ein Hund, der ruhig atmet oder Nähe anbietet, kann Vertrauen und emotionale Regulation fördern. Besonders Kinder reagieren oft mit erstaunlicher Offenheit.
Für Fachkräfte biete ich Supervision an. In Einzel- oder Gruppensitzungen wird das eigene Verhalten und die Haltung rund um die Arbeit reflektiert. Hierbei werden entweder Fälle anonymisiert besprochen oder es geht auch häufig um Stressbewältigung und Psychohygiene im beruflichen Kontext.
Wie integrieren Sie Themen wie Stressbewältigung, Stimmungsübertragung und Trauma in Ihre Arbeit – und was macht Ihren ganzheitlichen, systemischen Ansatz in diesem Kontext wirksam?
Mein ganzheitlicher, systemischer Ansatz wirkt, weil er nicht isoliert betrachtet: Ich berücksichtige das Zusammenspiel von Körper, Emotionen, Beziehungen und Umwelt.
In der systemischen Beratung steht die wechselseitige Verbundenheit im Zentrum. Denn wir alle beeinflussen uns gegenseitig. Ich verbinde wissenschaftliche Erkenntnisse (z. B. aus Stressforschung, Bindungsforschung, Traumaforschung) mit praktischer Methodik und reflektierter Haltung.
Bin ich z.B. selbst angespannt, zeigt sich dies über meine Körpersprache, meine Tochter und auch meine Hunde reagieren unmittelbar mit Unruhe auf meine Spannungen. Nicht immer gelingt es dies bewusst wahrzunehmen, vor allem dann nicht, wenn Stress ein Dauerzustand ist.
Die Förderung von Stressbewältigung ist ein wesentlicher Teil der Beratung. In vielen Familien ist Stress ein permanenter Begleiter – er verformt Bindungen, beeinflusst Reaktionsmuster und verstärkt Krisen.
Wir sind biologisch darauf ausgelegt, Emotionen im sozialen Umfeld mitzufühlen und Stimmungen zu übernehmen. In Familien mit Kind und/oder Hund geschieht vieles über nonverbale Wege.
Meine Arbeit zielt darauf, Bewusstheit über solche Übertragungen herzustellen und Werkzeuge zu entwickeln, um z. B. in stressvollen Situationen nicht zu „kippen“, sondern reguliert zu bleiben. Dies fällt vor allem dann schwer, wenn die Person traumatische Erlebnisse nicht verarbeiten konnte und das Trauma durch das Verhalten anderer wieder aktiviert wird.
Zum Beispiel wenn das Kind tritt und beißt, kann dies bei der Mutter oder dem Vater ein Trauma durch eigene Gewalterfahrung aktivieren und zu Wutausbrüchen der Eltern führen.
Häufig zeigen Familienmitglieder, Kinder sowie Hunde, Traumafolgestörungen. Ich biete jedoch keine Traumatherapie, sondern Unterstützung und Begleitung im Leben mit traumatisierten Kindern, Hunden oder Eltern. Die Herstellung von Sicherheit, Stabilisierung, Stressreduktion und Bindungsförderung sind für mich Eckpfeiler der traumasensiblen Begleitung und Beratung.
Nicht nur, aber vor allem im Kontext von Trauma, ist es besonders wichtig interdisziplinär zu arbeiten und darauf zu achten, dass die KlientInnen bei Psychotherapeuten, Fachärzten bzw. Verhaltensmedizinern (im Falle von Hunden) angebunden sind. Die Kooperation mit KollegInnen ist eine wichtige Ressource in meiner Arbeit.
Wirksame Beratung bedeutet für mich, nicht „Reparatur“ zu leisten, sondern Verständnis, Bewusstheit und Selbstwirksamkeit zu fördern. Wenn Menschen verstehen, warum sie – oder ihr Familienmitglied – so reagieren, entsteht Raum für Mitgefühl und neue Handlungsmöglichkeiten. Zudem achte ich auf Transparenz: Ich erkläre Zusammenhänge, Hintergründe und ermögliche aktive Teilhabe.
Gibt es ein konkretes Erlebnis oder ein Feedback aus Ihrer Arbeit, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist – weil es verdeutlicht, wie nachhaltig Ihre Begleitung wirkt?
Ein kleiner, aber für mich sehr wertvoller Satz eines Kindes zeigt, wie sehr ich in der tiergestützten Therapie als Vorbild agiere: „Du sagst sogar BItte, wenn du Vivo sagst, dass er etwas nicht tun soll“.
Zwei Feedbacks haben mich sehr berührt:
Bei den Eltern eines Kindes, das Abends Wutausbrüche hatte, habe ich angesprochen, dass es eventuell gerne Aufmerksamkeit möchte und die Aufgabe mitgegeben ihr Kind genau zu beobachten, welches Verhalten es zeigt noch bevor es wütend wird. Durch die Beobachtung und somit Aufmerksamkeit dem Kind gegenüber waren die Wutausbrüche fast völlig verschwunden.
Eine Hundehalterin mit Panikstörung mit einem Hund, der ebenfalls Panikattacken hatte und die sich gegenseitig verstärkt haben, sagte zu mir am Ende der Zusammenarbeit „Jetzt sehe ich meinen Hund nicht mehr als Belastung, sondern als Feedback wieder mehr auf mich zu achten“




